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Die Möglich Macherin

Eigentlich ist so ein Bankhaus unspektakulär. Das, was man aus Filmen kennt und sich vielleicht so mancher Bandit erhofft, Tresorräume mit Gold und Geld oder Schließfächer mit Juwelen und Fremdwährungen gibt es heutzutage kaum noch. Die Digitalisierung hat längst Einzug in die Finanzbranche gehalten. Die Welt hat sich geändert, gewandelt. „War es früher besser?“, fragt Reinhard Helene. Sie denkt kurz nach. „Es war anders“, antwortet Helene Neurauter bewusst und überlegt. Es war nicht alles besser, wie viele Menschen behaupten, die von der Vergangenheit schwärmen. Helene erinnert sich beispielsweise
an den Krieg, der auch in Innsbruck Leid und Angst brachte. Die Nähe ihrer Wohn- und Arbeitsstraße, der Adamgasse, zum Hauptbahnhof hatte stets viele Vorteile, im Zweiten Weltkrieg aber war sie problembehaftet. Denn der Innsbrucker Hauptbahnhof war ein wichtiger Knotenpunkt der Versorgung, den die Alliierten mit allen Mitteln zu zerstören versuchten. So kam es, dass nirgends in Innsbruck mehr Bomben fielen, nur hier. Rund 30 explodierten in Helenes Nachbarschaft, doch nur eine einzige kam ihrem Haus und der familiären Fabrik in der Adamgasse nahe. Von Schäden oder gar Opfern blieben sie verschont.

Bombeneinschläge in Innsbruck um den Hauptbahnhof

 

„Wissen Sie, die Adamgasse war immer eine gute Gasse“, erzählt die 93-jährige Dame Herrn Mayr. Reinhard könnte ihr Sohn sein. Mitte 60 ist der Direktor der Raiffeisen-Landesbank Tirol heute, und die beiden kennen sich schon ein ganzes Leben lang, auch wenn man der Erinnerung ein wenig nachhelfen muss. „Natürlich kenne ich Herrn Direktor Mayr. Ich habe ihn schon oft in der Zeitung gesehen und treffe ihn hin und wieder auf der Straße“, sagt Helene und schaut Reinhard an. Er lächelt. Sie überlegt. „Ach nein, Sie sind doch nicht der Sohn des Herrn Mayr von der Adamgasse?“ Reinhard lächelt mehr. Mayrs Vater war einst der Nachbar von Helene Neurauter. Als Gemischtwarenhändler bot er alles Mögliche in der Gasse feil, Helene Neurauter war oft Gast im Geschäft und traf dort auch auf den damals jungen Burschen. „Heute würde man sagen, mein Vater besaß einen Tante-Emma-Laden“, erzählt er. „Alles, was man brauchte, fand man dort“, weiß auch Helene Neurauter.

In der Adamgasse stand einst eine große Feigenmühle

 

Frau Neurauter war eine bekannte Frau, eigentlich die Grande Dame der Adamgasse. Denn sie entstammt einer Familie, die diesen Teil Innsbrucks wesentlich mit gestaltet und geprägt hat. Ihr Großonkel mütterlicherseits war Gedeon von Hibler, ein bekannter Fabrikant, der in der Adamgasse, dort, wo heute die Raiffeisen-Landesbank zu Hause ist, eine Feigenkaffeemühle betrieb. Röstaromen zogen durch die Gasse und schwängerten die damals noch frische Stadtluft mit köstlichen und exotischen Nuancen. 1910 erbte Helenes Vater die „Feigenkaffee u. Malzkaffee Fabrik Gedeon v. Hibler“, wie sie offiziell hieß. Das Erbe kam überraschend und freute den kunstinteressierten Mann nicht besonders. Doch Gedeon hatte ihm aufgetragen, die Fabrik in seinem Sinne weiterzuführen, und das tat er auch mit Erfolg.
Nicht nur seine Mitarbeiter, auch die Menschen in der Adamgasse schätzten ihn sehr. „Zu späterer Zeit wurde Urlaub für die Mitarbeiter gesetzlich eingeführt. Mein Vater schickte deshalb auch eine ausgezeichnete Packerin in Urlaub“, erzählt Helene Neurauter. „Eine Packerin?“, fragt Reinhard nach, „Was hat man
da gemacht?“ – „Die Dame hat den Kaffee in Tüten verpackt und akkurat gefaltet. Sie machte das perfekt und war eine fleißige Mitarbeiterin, weiß ich noch. Jedenfalls schickte mein Vater auch sie in Urlaub, doch stand sie schon am nächsten Tag wieder an ihrem Platz. Mein Vater fragte, warum sie nicht im Urlaub sei. Und die Dame antwortete: ‚Ich verbringe meinen Urlaub in Ihrer Fabrik‘. Mein Vater war stolz darauf. Und die Packerin war es auch.“ Unzählige Geschichten fallen Helene Neurauter über diese Zeit ein. Und während sie erzählt, scheint ihr der Wert ihrer Worte, die so lebendig beschreiben, wie sich die Adamgasse über ein Menschenleben hinweg verändert hat, gar nicht bewusst zu sein.
Die Adamgasse selbst sah damals gänzlich anders aus. Der Sillkanal floss durch die Straße und wurde auch für die Feigenmühle genutzt. Ein großes Wasserrad trieb das Mühlwerk im Unternehmen an. Im Krieg wurde der Kanal zerstört, und so erhielt die Straße ihre heutige Form.

Ein Wasserrad in der Adamgasse - heute undenkbar, damals durch die Sill möglich

 

Nach dem Krieg war ohnehin vieles anders. Helenes Bruder kam nach englischer Gefangenschaft nach Hause zurück und übernahm die Leitung des Unternehmens. Er blieb dem Produkt Kaffee treu, auch wenn es später der heute bekannte Bohnenkaffee wurde, den man hier verarbeitete. Denn vor dem Krieg war Bohnenkaffee teuer, weil er aus allen Teilen der Welt kam, nur nicht aus Europa. Feigen hingegen konnte man vor allem in Italien leicht einkaufen und daraus köstlichen, pfiffigen Kaffee herstellen. „Eigentlich hat man ja lange Zeit beides gemischt“, erinnert sich Reinhard Mayr auch an die Gewohnheit seines Vaters, der neben der Fabrik sein Geschäft betrieb. „Ganz richtig“, antwortet Helene, „das gab dem Ganzen einen Touch“. Einen Touch Süße und einen volleren Geschmack meint sie damit. Beide erinnern sich gut an den speziellen Geschmack der Mixtur, die heute nur mehr in Spezialitätenhäusern zu finden ist.
Die Zeit verging. Aus dem einstigen Bub Reinhard Mayr entwickelte sich ein Student der Mathematik und der Wirtschaft. Helene Neurauter war indes bereits verheiratet, der Vater hinübergegangen und die familiäre Fabrik nach vielen erfolgreichen Jahren geschlossen. Die Grundstücke in der Gasse gehörten fortan
Helene und ihrem Bruder.

Helene Neurauter ist auch in der Vorstandsdirektion der RLB Tirol stets ein gern gesehener Gast 

 

Es war Mitte der 1960er Jahre, als Helene Neurauter eine große Entscheidung traf, die Auswirkungen auf die ganze Straße, die Zukunft Innsbrucks und vor allem auch auf die Familie Mayr hatte. „Die Raiffeisen Zentralkasse, wie die Raiffeisen-Landesbank Tirol damals hieß, suchte einen Platz in Innsbruck, an dem sie sich entwickeln konnte. Und weil die Adamgasse ein schöner und vor allem zentraler Platz war, kam man zu uns“, erinnert sich Neurauter an das damalige Treffen. Sie war es, die mit dem Bruder diskutierte, was man mit dem Grund an diesem Platz machen sollte und wie man die Gasse, die ein Leben lang
Heimat für sie und ihre Fabrik gewesen war, weiterentwickeln könnte. Die Adamgasse, in der ihre Familie seit so langer Zeit gewirkt und gewerkt hatte, war ihr einfach wichtig. Und um wieder Entwicklung zu ermöglichen, verkaufte sie. Die Fabrik wurde abgerissen, Mayrs Vater verlor sein Geschäft und wechselte in
seinen alten Beruf als Steuerberater zurück. Damit verlor Helene auch Reinhard aus den Augen.

Mit ihren Mitte 90 flog die rüstige Dame erst nach Peru, Reisen ist ihre Leidenschaft

 

Die Raiffeisen Zentralkasse entstand an jenem Ort, an dem nicht nur Kaffee gemahlen wurde, sondern auch an dem Ort, an dem Helene ihr Leben verbrachte. Der Verkauf war deshalb an eine Bedingung geknüpft: Sie wollte nach dem Bau an diesen Ort zurück, in das Haus, das Raiffeisen hier errichten sollte. So kam es, dass Helene Neurauter seitdem in einer Bank wohnt, und zwar als einzige Bewohnerin, dafür aber mit einem grandiosen Ausblick von der obersten Etage der Raiffeisen-Landesbank auf Innsbrucks Zentrum. „Haben Sie sich hier nie alleine gefühlt? Immerhin wohnen Sie in einer Bank, und die ist viele Stunden leer und verlassen …“, fragt Reinhard Mayr nach. „Niemals“, antwortet die Dame, „ich hätte mir nie vorstellen können, mit 100 anderen Nachbarn zusammenzuwohnen. Wissen Sie, ich hatte ja die Möglichkeit“, erzählt sie. Helene Neurauter gehören dank der guten wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Fabrik einige Wohnungen und auch ein Haus. „Doch ich wollte immer nur hier
sein. Mit der Gasse verbinde ich mein ganzes Leben und es war stets ein schöner Ort für mich.“

Kennen sich ein ganzes Leben lang: Bankbewohnerin Helene Neurauter und Direktor Reinhard Mayr


Die Jahre zogen ins Land und nach dem Studium kehrte auch Reinhard Mayr an den Ort zurück, den er schon aus seiner Kindheit so gut kannte. 1979 begann der Mathematiker seine berufliche Laufbahn in der Bank und assistierte den damaligen Geschäftsleitern. Treffen mit Frau Neurauter gab es kaum. Der Zugang zur Wohnung und der Eingang zu Reinhards Arbeitsplatz lagen an verschiedenen Seiten des neuen Gebäudes. Mayr engagierte sich intensiv im Haus, übernahm in den Jahren mehr und mehr Verantwortung und wurde schließlich erst Direktor
der Raiffeisenbank Innsbruck und danach 1994 ständiges Mitglied des Vorstandes der Raiffeisen-Landesbank. Seit mehr als 24 Jahren lenkt Mayr nun als Finanz- und Risikovorstand die Geschicke des größten Bankhauses der Innsbrucker mit. Helene und Reinhard kamen stets dann zusammen, wenn
es große Richtungsentscheidungen in ihren Leben gab. Der einstige Verkauf der Liegenschaft an Raiffeisen und das damit verbundene Weichen von Reinhards Vater war so ein Moment. Der Verkauf des noch bestehenden Miteigentums von Frau Neurauter am bestehenden Bankhaus ist heute so ein Moment.

Aus dem Haus soll etwas werden, das zur Adamgasse passt, wünscht sich die Dame


Nach mehr als 50 Jahren im Haus der RLB Tirol und nach 93 Jahren in der Adamgasse verlässt die Dame den Ort, der für sie stets Heimat war. Neuerlich schafft sie damit Entwicklung und Erneuerung und unterstützt Raiffeisen für die Zukunft. Erst durch den Verkauf ihres restlichen Miteigentums am Gebäude
der Bank ergibt sich für die RLB die Möglichkeit, aus dem bestehenden Haus und dem gesamten Quartier etwas gänzlich Neues zu machen. Und obwohl es auch im erneuerten Gebäude Platz für Helene Neurauter gegeben hätte, entschied sich die Dame trotz ihres Alters, noch einmal etwas Neues zu wagen. Sie bezieht eine moderne Wohnung in einem Turm unweit der Adamgasse. Auch in Zukunft wird sie ihre Gasse damit im Blick haben und auf die Entwicklungen an diesem Ort schauen, der für sie das ganze Leben bedeutet. „Was wünschen Sie sich für diesen Ort, Frau Neurauter“, fragte Reinhard Mayr. „Dass etwas Gutes daraus wird. Ein Gebäude, das schön und nicht zu modern ist. Etwas, das
zur Adamgasse passt. Ich bitte Sie, schauen Sie darauf!“

Helene Neurauter, geboren im Jahre 1925, war für die Raiffeisen-Landesbank Tirol stets eine Möglichmacherin. Dafür sind wir dankbar und tief mit ihr verbunden.

 

Von Philipp Ostermann-Binder

Der Beitrag ist im Q#1 erschienen.