Bei mir in der Firma gelte ich als eine Art New-Work-Pionier. Ich gelte als jemand, der sich schon dafür interessiert und das Thema, wie wir in der Firma sagen, „gelebt“ hat, bevor es Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch fand. In meiner Firma als Pionier zu gelten, ist allerdings auch nicht so schwierig, denn meine Firma besteht nur aus einer Person (Ich-AG, so nannte man das bei Unternehmensgründung in Deutschland), und diese Person bin ich.
Tatsächlich habe ich mich vor 15 Jahren selbstständig gemacht, weil ich mich nach allem sehnte, was man heute unter „New Work“ versteht: mehr Freiheit, flexiblere Arbeitszeiten, bessere Kommunikation, mehr Verantwortung, projektbezogenes Arbeiten, weniger Routine- aufgaben und so weiter. Dank meines kleinen Erfahrungsvorsprungs möchte ich versuchen, ein paar Tipps und Einschätzungen für alle ab- zuleiten, die sich gerade in die Welt von New Work bewegen.
Allerdings möchte ich auch meine Fehlschläge nicht verheimlichen. Meine Steuerberaterin signalisierte mir recht schnell, dass sie mich leider nicht von lästigen Routineaufgaben wie Umsatzsteuervoranmeldung und Einkommenssteuervorauszahlung entbinden könnte. Die Kommunikation mit Kolleg:innen wurde tatsächlich besser, fand nun allerdings meistens in Cafés und Restaurants statt, wodurch ich etwas träge wurde und was vor allem gegen Monatsende meinen Cashflow beeinträchtigte. Flexiblere Arbeitszeiten verstand ich anfangs so, dass ich unter der Woche gern durch die Gegend flanierte, leutselig vor mich hingrinste, das gute Internet in meiner Bürogemeinschaft zum Serien-Streamen nutzte und dann am Wochenende an unerledigten Projekten schuftete, während die Familie fragte: Wolltest du nicht eigentlich in Zukunft MEHR Zeit haben?
Und apropos Projekte. Ich fand das Wort sehr verheißungsvoll, es wird ja auch oft in der Kopplung „spannende Projekte“ verwendet. Aber wenn man, das merkte ich schnell, so viele Projekte „spannend“ findet, dass man immer mehr davon annimmt oder anfängt, arbeitet man zwar vielleicht im weitesten Sinne projektbezogen, vor allem aber nervenzusammenbruchbezogen.
Also versuchte ich, während ich für mich selber ohne großes Besteck irgendwie „New Work“ erfand, mich immer wieder auf die beiden für mich zentralen Begriffe zu besinnen: Verantwortung und Freiheit.
Am Anfang meines neuen, selbstbestimmten Jobs dachte ich, Freiheit bedeutet, in der Schlafanzughose am Küchentisch arbeiten zu dürfen, sich Sticker auf den Laptop zu kleben und nur selten an Meetings teilzunehmen. Ich dachte, Verantwortung heißt, zwischendurch mal den Papierkorb auszuleeren, nach Restaurantbesuchen die Quittung aufzuheben und die Pakete der Nachbarn anzunehmen, wenn tagsüber der Bote bei uns in der Bürogemeinschaft klingelte. Ich glaube, das ist ganz oft so: Wenn etwas Neues beginnt, staunt man über die großen Worte und stellt sich was Tolles darunter vor, und dann lebt man diese großen Worte im Alltag eher eine Nummer zu klein, als eigentlich gut wäre. Jedenfalls war das bei mir so:
Ich wünschte mir Freiheit, stellte mir darunter eine selbsttragende Existenz als ungestresster Lebenskünstler vor und setzte davon im Prinzip die ersten Jahre als einziges um, mir keine Hose mit Bügelfalte anzuziehen.
Es hat lange gedauert, bis ich begriff, dass Freiheit und Verantwortung womöglich was ganz anderes bedeuten, wenn man neu und anders arbeiten möchte. Nämlich Verantwortung nicht nur im Sinne von: mehr Verantwortung übernehmen und dafür auch mehr Anerkennung kriegen. Sondern auch im Sinne von: mehr Verantwortung dafür übernehmen, was für einen selbst gut ist, wo man seine Grenzen hat, wo man sich und anderen auch mal öfter als früher sagen muss: Ich glaube, das traue ich mir nicht zu.
Und Freiheit in dem Sinne, sich öfter zu erlauben, nein zu sagen. Öfter zu sagen: Ich möchte das nicht, das liegt mir nicht. Zu sagen: Bei dieser Art von Aufgaben kriege ich ein ungutes Gefühl, davon hat niemand was, also entweder, jemand anders macht das, oder wir machen das anders, zum Beispiel, indem ich das nochmal neu lerne. Beides finde ich sehr konstruktiv, jedenfalls viel mehr, als wenn man sich pflichtschuldig an irgendwas abrackert, wo am Ende nur Murks rauskommt.
Wie gesagt, bei mir hat es eine ganze Weile gedauert, bis ich soweit war und entdeckt habe, dass es auch eine Freiheit und Verantwortung gibt, „nein“ oder „lieber nicht“ zu sagen. Ich hatte, weil ich nur eine Ein-Personen-Firma bin, allerdings auch einen entscheidenden Nachteil: Mein Chef ist ein etwas langsamer, unflexibler, ängstlicher Typ, bei solchen Leuten muss man einfach etwas geduldiger sein.
TILL RAETHER arbeitet als freier Journalist in Hamburg, unter anderem für Brigitte und das SZ-Magazin. Er ist zwar kein Raiffeisen-Kunde, weiß aber dennoch, was er sich von seiner Bank in Deutschland wünscht.